
Die Bildhauerin Asta Gröting schnitzt überragende Filmbilder wie feinsten Buchsbaum. Das Frankfurter Städel zeigt nun ihre skulpturalen Videos der vergangenen zehn Jahre.
In der Ausstellung einer Bildhauerin ausschließlich Videoarbeiten und eine namensgebende Atemkurve in Laser zwischen Tod und Leben zu sehen, überrascht. Betritt man derzeit aber das Untergeschoss des Frankfurter Städel und umrundet die in den Weg gehängte Leinwand, erschließt sich schnell, warum dies keine getrennten Welten sein müssen. Die 1961 geborene Künstlerin Asta Gröting fand auch in der Bildhauerei stets unausgetretene Zugänge, selbst dann noch, als sie das Metier klassisch als Professorin an der Akademie der Künste in München zu vermitteln hatte. In Berlin verblüffte sie zuvor ihr Publikum beispielsweise mit Negativabgüssen der noch Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs zerschossenen Fassaden, bei denen die Einschusslöcher und Schrapnellwunden der Wände sowie diverse Materialreste in ihnen zu Skulpturen des Kriegsirrsinns geronnen.
Doch nun steht man vor der 2015 entstandenen Videoarbeit „Touch“ und sieht die Künstlerin intensiv das Gesicht ihres Sohnes, auch das der Schriftstellerin Deborah Levy, berühren und kneten, wie Bildhauer es sonst mit Ton, Wachs oder Gips halten würden. Der intensive Blickkontakt mit ihren Modellen ist physisch zu erspüren, was ähnlich wie bei Marina Abramovićs Monumentaltortur-Performance des stundenlangen Fixierens das Gegenüber ohne das kleinste Wort der Ansprache, bei ihrem Sohn für sichtlichen Unwillen sorgt. Wendet man sich dann zurück und schaut auf die große Projektionsfläche vor John Armleders permanenter Spiegelwand, steht man drei anderen lebenden Skulpturen im Videoformat gegenüber: Die aktuellste Arbeit „Matthias, Helge, Asta“ feiert Premiere im Städel, das sieben Bewegtbildwerke der Künstlerin aus den vergangenen zehn Jahren versammelt. Auf die zwei Mal vom Schauspieler Matthias Brandt gestellte Beckett’sche Frage „Bist du gescheitert?“ folgt kein Wort. Das Einzige, was passiert, ist, dass Gröting mit der Kamera wie mit einer verlängerten Hand endlos langsam und tiefenscharf die Charakterköpfe von Brandt, von dem begnadeten Jazz-Philosophen Helge Schneider sowie ihr eigenes Haupt abtastet.
Das Einzige, was die drei Individuen verbindet, ist ein roter Mantel, der etwas Würdevolles hat und anzeigt, dass die Frage nicht herablassend gemeint ist, vielmehr neugierig und sich für persönliches, „kleines“ Scheitern interessierend, sowie der blaue Vorhang im Hintergrund, der die stoisch abgefilmten und durch keine sonstigen erkennbaren Merkmale zusammenhängenden Kopf-Büsten verschränkt. Die Antwort muss der Betrachter aus den abgetasteten Lavater-haften Charaktergesichtern lesen. Wie wohl alle Bildhauer das innere Wesen des skulptierten Subjekts ans Licht bringen wollen, will Gröting innere Stimmen sichtbar machen, wie sie es vor Jahren bereits mit einem Video zu Bauchrednern erprobte.
Der eine Zugang Grötings zum Medium ist mithin die Übertragung bildhauerischen Arbeitens mit Körpern in die Sprache des Videos; der andere jener eines Skulptierens der Bilder selbst. Dafür steht etwa ihr Einsatz von Kameratechniken extremer Verlangsamung. Zur Linken der drei Charakterköpfe Brandt, Schneider und Gröting lockt dasselbe tiefe Blau das Vorhangs hinter diesen in Gestalt eines üppig blühenden Frühlingsbaumes, in dem 2022 entstandenen Video „Cherry Blossom – Dawn and Dusk“. Die sich im Wind bewegenden und sanft zu Boden fallenden Kirschblüten wie auch flirrende Insekten sind mit einer Spezialkamera gefilmt, die gerade einmal ein Bild pro Sekunde statt der üblichen 24 festhält. Der impressionistisch flüchtige Moment des Sonnenaufgangs im Morgengrauen, bei dem beim ersten Blick auf dem Fenster noch bläuliche Reste der Nacht zu erhaschen sind und sich beim zweiten bereits die Helle des anbrechenden Tags breit- macht, ist etwas, das in klassischer Bildhauerei nicht zu fixieren ist, eine Bildhauerin wie Gröting dennoch fasziniert.
Das andere Extrem flankiert die „Non-Talking Heads“ im Zentrum der Schau auf der rechten Seite. Im 2021 gefilmten „Wolf and Dog“ setzt die Künstlerin eine extrem rare Hochgeschwindigkeitskamera ein, die mit 1500 Bildern pro Sekunde Zwischen- und Mikromomente sichtbar werden lässt, die sonst höchstens das Unterbewusstsein registrieren würde. Ausgangspunkt war die Beobachtung, wie in der Pandemie die Angst vor Vereinsamung im Lockdown durch die massenhafte Anschaffung von Hunden sublimiert wurde. Auch Gröting schaffte sich einen solch treuen Gefährten an und beobachtete diesen über Monate penibel genau, wie es große Tierbildhauer wie Rembrandt Bugatti oder August Gaul hundert Jahre zuvor nicht anders gehalten hätten. Sie stolperte über den Fakt, dass neben den domestizierten 400 Hunderassen parallel die Hunde-Wildform Wolf in den Wäldern lebt, jedoch anders als die Schoßhunde und Covid-Milderer als unberechenbare Rudeltiere, Rotkäppchenfresser und werwolfartige Bedrohung äußerst negativ beleumundet sind – und bis heute noch viele Vorurteile auf sich ziehen. Das brachte sie zur Experimentalanordnung ihres Hundes Laika in einem Gehege mit zwei Wölfen, die sich trotz Kontakts mit Menschen ihre Wildheit erhalten haben.
Die Wölfe werden für ihre Mitarbeit von den unsichtbaren Tiertrainern mit rohem Fleisch gewonnen, das von oben ins Bild geworfen und von ihnen geschickt im Flug aufgefangen wird, während der Hund am Ende von einer isolierten Hand Trockenfutter gereicht bekommt. Die vollkommen unterschiedlichen Naturelle werden durch die minutenlang gedehnten Sequenzen zur Kenntlichkeit entstellt: Der Hund ist durch seinen Kontakt mit Menschen enthemmt und schnuppert und schubbert am Wolf bis zur Übergriffigkeit, denn Laikas Umklammern des Kopfes des Gegenübers entbehrt nicht einer sexuellen Komponente. Die Wölfe hingegen trippeln mit den Beinen im Stand, was Abstandhalten signalisieren soll, zugleich aber auch eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber dem aufdringlichen kleinen Ex-Wolf offenbart. Durch die technische Entschleunigung jedoch entdeckt der Betrachter noch die winzigsten Regungen der Mimik oder den ultrakurzen Überraschungsbiss des bis zum Übermut kühnen Hundes in die Lefzen des Wolfes, der Gröting zufolge während der realen Beobachtung überhaupt nicht wahrzunehmen war.
Die filmische Tierskulptur schält mithin das innerste Wesen, das Sein der Kreatur heraus. Ebenso wie in dem 2023 geschaffenen Video „Primaten“, wo erneut zwei Arten parallelisiert werden, indem auf den Kopf eines Orang-Utans der eines Babys projiziert wird und damit in der Überblendung die Abstammung von einem gemeinsamen Ahnen verdeutlicht wird, im visuellen Abschälen der Gesichter aber auch die Unterschiede. Wie Gröting hier jedes Härchen über den traurigen Affenaugen sowie die Textur des rostbraunen Fells in atemnehmender Tiefenschärfe abfährt und diese der porenreinen Babyhaut kontrastiert, begeistert. Im Grunde ergibt „Tierskulptur“ heutzutage nur in dieser Form Sinn.
In „First Drink“ von 2018 wiederum werden acht Personen aus ihrem Umfeld in ihrem Verhalten der Morgenroutine beobachtet und dadurch porträtiert. Die Versuchsanordnung sah vor, jeder solle seinen Kaffee oder Tee wie gewohnt mit vertrauten Mitteln wie Kardamom und Lieblingstasse zubereiten. Den roten Faden bilden die stilllebenhaften Arrangements im Hintergrund mit Küchentüchern und drei leuchtend gelben Quitten, die über die Filmarbeit von drei Monaten dieselben bleiben und sich in Farbe und Oberfläche stark wandeln. Gleichen die saftig prallen Früchte anfangs einem frischen Courbet-Stillleben, verändern sie sich immer mehr zu einem Vanitas-Nature morte im Stil der Niederländer. Bei einem befreundeten japanischen Koch, der sich aus traumschön getöpferten Tassen formvollendet einen Tee zubereitet, stehen zudem Ballonflaschen im Hintergrund, die die Küche in eine alchimistische Werkstatt verwandeln.
Auch harmlose Dinge (in „Things“ wie bei Goltzius’ fallenden Himmelsstürmern in der Luft gefilmt), die Bildhauer so gut wie nie und schon gar nicht in Form von Stillleben umsetzen können, vermag Gröting in ihren Bildhauer-Videos präzise zu charakterisieren. Sie ist damit eine aktuell einzigartige Skulpteurin von Zwischenräumen, der Tiefen von Fell, Oberflächen oder Beziehungen – und richtet die Lupe entschleunigten Films auf Details, die sonst übersehen würden. Stefan Trinks
Asta Gröting. Ein Wolf, Primaten und eine Atemkurve. Städel, Frankfurt; bis 12. April 2026. Kein Katalog.